Die Vorhänge meiner Großmutter
Als Kind besuchte ich sehr gerne meine Großmutter in der Altstadt. Ich liebte das verwinkelte, uralte Haus meiner Urgroßeltern in der Wiesbadener Wagemannstraße, wo man so gut ‚Verstecken‘ spielen konnte und es auf mehreren Etagen immer etwas zu entdecken gab.
Nachdem einer von ihren Söhnen in Rußland gefallen war, ihre anderen drei erwachsenen Kinder längst ausgezogen waren und dann auch noch das Haus meiner früh verwitweten Großmutter im Krieg von einer Bombe zerstört worden war, hatte sie sich zurück in ihr Elternhaus geflüchtet..
Dort bewohnte meine zarte, kleine Großmama ein Zimmer, das wahrscheinlich dem Zimmer ihrer längst vergangenen, behüteten Mädchenzeit durchaus ziemlich ähnlich sah.
Mich entzückten in diesem Zimmer vor allem ihre duftigen, weißgrundigen Vorhänge, die mit romantischen Szenerien bedruckt waren. Die dargestellten Motive waren denen auf der hier abgebildeten Decke sehr ähnlich und ich konnte sie mir stundenlang anschauen wie ein Bilderbuch und dachte mir oft Geschichten zu den anmutigen Figuren aus.
Daß Großmamas heißgeliebter Vorhangstoff einer langen Tradition entstammte, französischen Ursprungs war und den Namen ‚Toile-de-Jouy‘ trug, ahnte ich damals noch nicht. Aber als ich viele Jahre später Kollektionen für Einrichtungen im Country Stil zusammenstellen durfte, brach die Erinnerung an mein damaliges, kindliches Entzücken sich immer wieder Bahn und ich suchte für meine Kundinnen immer wieder gerne Accessoires mit dem romantisch-nostalgischen Landhaus-Charme aus Frankreich aus.
Indiennes – Baumwollstoffe aus Indien
Im 18. Jahrhundert traten farbenfroh bedruckte Baumwollstoffe aus Indien zunehmend in Konkurrenz zu den berühmten Seidenstoffen französischer Webereien. Deshalb wurde die Einfuhr dieser Baumwollstoffe in Frankreich vom König eine Zeitlang verboten. Aufgrund der anhaltend großen Nachfrage nach den pflegeleichten und preiswerten Stoffen entstanden schließlich einheimische Webereien, die sich auf bedruckte Baumwolle spezialisierten.
Toile-de- Jouy – Inbegriff für typisch französischen Landhaus-Charme
1760 nahm der Württemberger Christophe-Philippe Oberkampf in Jouy-en-Josas bei Paris eine Kattundruckerei in Betrieb , die alsbald das führende Unternehmen auf dem französischen Markt wurde und deren Produktionsstandort sogar der beliebten Stoffart ihren Namen gab.
‚Toile‘, Baumwollkattun aus Jouy-en-Josas wird sowohl durch das Druckverfahren als auch durch die charakteristischen Motive bestimmt. Oberkampf war in Frankreich der erste, der Kattun mittels gravierter Kupferplatten bedruckte, was – eine genügend feine Oberflächenstruktur des Stoffes vorausgesetzt – es erlaubte, sehr feingliedrige und sehr anspruchsvolle Muster wie etwa detaillierte figurale oder florale Darstellungen zu drucken.
Die Dessins zeigten meist ländliche Szenen oder die im 18. Jahrhundert so beliebten exotischen ‚Chinoiserien‘, die mit zahlreichen feinsten Ranken- und Blütenarrangements verbunden wurden.Die Muster wurden ursprünglich ausschließlich in Rot, seltener in Blau, auf weißen Stoff gedruckt.
Heute finden sich auch viele andere zweifarbige Farbkombinationen, wie diese oben in Gelb und Rot.. Und Toile-de-Jouy Dessins sind inzwischen von Frankreich aus in aller Welt zu einem beliebten Bestandteil eines romantisch beschwingten Landhausstils geworden.
Französischer ‚Toile-de-Jouy‘ – Charme und englische ‚Transferware‘ – Keramik
In den Keramikmanufakturen im englischen Staffordshire wurde Mitte des 18. Jahrhunderts der ‚Transferdruck‘ erfunden. Dieses Verfahren ermöglichte es, Muster von einer gravierten Kupferplatte auf keramische Oberflächen zu übertragen.
Bis dahin hatte es nur handgemalte Dekore für Geschirr gegeben, die sich nur sehr wohlhabende Leute leisten konnten. Der Transferdruck machte es nun möglich, daß gemustertes Keramikgeschirr auch erschwinglich für die Mittelschicht wurde.
Die Krüge in verschiedenen Größen entdeckte ich vor ein paar Jahren in einer der großen, viktorianischen Keramikmanufakturen , die 1876 in Stoke-on-Trent gegründet wurde und noch handwerklich mit den traditionellen Verfahren arbeitet. Die typisch französischen Toile-de-Jouy Motive wurden mit dem originalen Kupfertiefdruck auf handgemachte Staffordshire-Keramik aufgedruckt: französischer Landhaus-Charme & englische Country.Tradition…
Meine zauberhaften Fundstücke, darunter die wunderhübsche und kein bißchen tropfende Teekanne, waren für eine Country Charme Collection bestimmt, die ich im Auftrag eines Firmenkunden zusammenstellte. Aber ich muß gestehen, daß die Stücke auch ihren Weg in meinen privaten Geschirrschrank fanden!
Die typisch englische Teekanne inspirierte wiederum eine liebe französische…äh Pardon, bretonische Freundin, mir für meinen deutschen Teetisch ein passendes, typisch englisches ‚tea-cosy‘, einen Teewärmer mit dem französischsten aller Muster zu nähen. Wenn alles in Europa sich so harmonisch fügte…
Die Teestunde haben wir nun in der Tat erreicht und ich verabschiede mich damit ins Wochenende! Genießt es alle schön und bis bald!